Schritt für Schritt
Gedichtanalyse: Aufbau
1. Einleitung
In der Einleitung kannst du wesentliche Informationen zum Gedicht und zu:r Autor:in nennen. Dazu gehören der Titel des Gedichts, der:die Autor:in, das Erscheinungsjahr, die Erscheinungsform, die Gedichtart, das Thema und die literarische Epoche, in der das Gedicht verfasst wurde. Die Einleitung sollte nicht mehr als zwei bis drei Sätze lang sein. Das Thema des Gedichts wird hier also nur zusammengefasst. Ins Detail gehst du erst im Hauptteil.
2. Hauptteil
Im Hauptteil deiner Gedichtanalyse untersuchst du das Gedicht nach Inhalt und Form. Es ist empfehlenswert, mit dem Inhalt zu beginnen, um Leser:innen eine Orientierung zu geben.
3. Inhaltsanalyse
Worum also geht es in dem Gedicht genau? Hier ist es hilfreich, das Gedicht in einzelne Sinnabschnitte zu unterteilen. Meistens sind das die Strophen, in denen das Gedicht verfasst ist. Ein neuer Sinnabschnitt kann aber auch dadurch gekennzeichnet sein, dass sich die Stimmung, die Zeitform, die Situation oder auch die sprechende Person, das sogenannte lyrische Ich, ändert.
Exkurs:
Als lyrisches Ich wird der:die Sprecher:in im Gedicht bezeichnet, die als Ich-Person auftritt und über sich selbst erzählt. Beachte dabei aber, dass das lyrische Ich nicht der:die Autor:in des Gedichts sein muss, sondern eine eigenständige (Kunst-)Figur darstellen kann.
Nachdem du das Gedicht in Sinnabschnitte gegliedert hast, beschreibst du Schritt für Schritt den Inhalt, also das Thema des Gedichts. Es ist auch möglich, dass das zu analysierende Gedicht verschiedene Themen gleichzeitig beinhaltet, unterschiedliche Situationen beschreibt oder mehrere Sprecher:innen enthält. Durch die Unterteilung in Sinnabschnitte kannst du die verschiedenen Aspekte des Gedichts nacheinander darstellen und deine Gedichtanalyse wird nachvollziehbar und für deine Leser:innen überzeugend.
4. Formanalyse
Nach dem Inhalt wird dann die Form des Gedichts untersucht. Dazu gehören sowohl die Struktur als auch die sprachlichen Merkmale des Gedichts.
Bei der Struktur des Gedichts sind vier Elemente relevant: Verse und Strophen, das Reimschema, das Versmaß und die Kadenz. Deine Gedichtanalyse sollte alle vier Elemente enthalten.
4.1 Verse und Strophen
Als Vers wird eine Zeile im Gedicht bezeichnet, mehrere Verse hintereinander stellen eine Strophe dar, also einen Absatz im Gedicht. Im Vergleich zu den Sinnabschnitten, die du vorher selbst festgelegt hast, sind die Strophen im Gedicht fest vorgegeben. Du erkennst sie an den größeren Abständen zwischen den Zeilen. Bei den Versen und Strophen untersuchst du also, aus wie vielen Versen das Gedicht besteht, ob Strophen erkennbar sind und ob sich einzelne Verse oder Strophen wiederholen.
4.2 Reimschema
Beim Reimschema wird betrachtet, ob das Gedicht in einem bestimmten Reimschema geschrieben wurde. Es gibt dabei reine und unreine Reime – beim reinen Reim klingen die Worte gleich, beim unreinen Reim nur ähnlich. Ein Beispiel für einen reinen Reim wäre Sonne – Wonne, ein Beispiel für einen unreinen Reim Mond – rund. Daneben gibt es je nach reimenden Worten mehrere Reimschemata: zum Beispiel den Paarreim (a-a-b-b), den Kreuzreim (a-b-a-b) und den umarmenden Reim (a-b-b-a) sowie längere Formen wie den Schweifreim (a-a-b-c-c-b) oder den Kettenreim (a-b-a-b-c-b-c-d-c).
Reimform |
Eigenschaften |
Paarreim
a-a-b-b |
Zwei aufeinanderfolgende Verse reimen sich. |
Kreuzreim
a-b-a-b |
Der erste und dritte sowie der zweite und vierte Vers reimen sich. |
Umarmender Reim
a-b-b-a |
Ein Reimpaar wird von einem anderen umschlossen. |
Schweifreim
a-a-b-c-c-b |
Zwei Paarreime und ein Reim, der das Gedicht in Abschnitte teilt. |
Kettenreim
a-b-a-b-c-b-c-d-c |
Abwechselndes Reimschema, das sich durch das Gedicht zieht. |
Reiner Reim |
Die Reimwörter klingen exakt gleich (z. B. „Sonne – Wonne“). |
Unreiner Reim |
Die Reimwörter klingen nur ähnlich (z. B. „Mond – rund“). |
4.3 Versmaß
Als Versmaß wird die Betonung der Silben im Vers verstanden, also der Klang der einzelnen Wörter. Das Versmaß ist somit für den Rhythmus des Gedichts wesentlich. Um das Versmaß zu bestimmen, wird die Abfolge von betonten und unbetonten Silben untersucht. Daraus entstehen insgesamt vier verschiedene Versmaße: der Jambus, eine unbetonte Silbe und eine betonte Silbe; der Trochäus, eine betonte Silbe und eine unbetonte Silbe; der Daktylus, eine betonte Silbe und zwei unbetonte Silben; und der Anapäst, zwei unbetonte Silben und eine betonte Silbe. Du kannst dir im Gedicht neben den Silben die einzelnen Betonungen notieren, um das Versmaß schnell und einfach zu bestimmen. In einem Gedicht können natürlich auch mehrere Versmaße und Mischkombinationen auftreten.
Versmaß |
Eigenschaften |
Jambus |
Eine unbetonte Silbe gefolgt von einer betonten
(z. B. „verstehn“). |
Trochäus |
Eine betonte Silbe gefolgt von einer unbetonten
(z. B. „Liebe“). |
Daktylus |
Eine betonte Silbe gefolgt von zwei unbetonten Silben
(z. B. „wandern“). |
Anapäst |
Zwei unbetonte Silben gefolgt von einer betonten
(z. B. „Paradies“). |
4.4 Kadenzen
Die Kadenzen beeinflussen ebenfalls den Klang und Rhythmus das Gedicht. Sie bezeichnen die Endsilbe im Vers. Wird diese betont, handelt es sich um eine stumpfe Kadenz, ist die Endsilbe hingegen unbetont, so ist es eine klingende Kadenz. Die reiche Kadenz tritt dann ein, wenn die letzten beiden Silben unbetont sind.
Kadenz |
Definition |
Stumpfe Kadenz |
Die Endsilbe im Vers ist betont. |
Klingende Kadenz |
Die Endsilbe im Vers ist unbetont. |
Reiche Kadenz |
Die letzten beiden Silben im Vers sind unbetont. |
5. Sprachliche Merkmale
Nachdem du die Struktur des Gedichts anhand der vier Aspekte – Verse und Strophen, Reimschemata, Versmaß und Kadenzen – analysiert hast, kannst du dich den sprachlichen Merkmalen zuwenden.
Als sprachliche Merkmale gelten die Wortarten, der Satzbau und die Stilmittel im Gedicht. Verwendet der:die Dichter:in bestimmte Wortarten (Adjektive zum Beispiel) häufiger als andere? Sind die Sätze im Gedicht lang und bestehen aus Haupt- und Nebensatz, sogenannten Hypotaxen, oder werden kurze Sätze aneinandergereiht (Parataxen)? Und welche Stilmittel fallen dir auf?
Sprachliche Merkmale |
Erklärung |
Wortarten |
Bestimmte Wortarten wie Adjektive,Verben oder Substantive
können auffallend häufig verwendet werden und den Stil prägen. |
Satzbau |
- Hypotaxe: lange Sätze mit Haupt- und Nebensätzen
- Parataxe: kurze, aneinandergereihte Sätze
|
Stilmittel |
- Metapher: bildlicher Vergleich ohne „wie“ oder „als“
- Alliteration: Wiederholung gleicher Anlaute
- Anapher: Wiederholung eines Wortes am Satzanfang
- Ellipse: Auslassung von Wörtern
- Enjambement: Zeilensprung ohne Satzende
- Neologismus: neu erfundenes oder zusammengestelltes Wort
- Paradoxon: scheinbarer Widerspruch
- Personifikation: Vermenschlichung von Gegenständen
|
Exkurs:
Es gibt zahlreiche Stilmittel, die in Textformen verwendet werden. Deshalb ist es für deine Gedichtanalyse wichtig, auf die auffälligsten und wichtigsten Stilmittel zu achten.
6. Schluss
Nach dem Hauptteil beendest du die Gedichtanalyse mit einem kurzen und prägnanten Schluss. Dabei sammelst du deine Erkenntnisse aus dem Hauptteil und fasst sie für deine Leser:innen zusammen.
Auch hier ist es entscheidend, auf Besonderheiten, die dir bei der Analyse aufgefallen sind, einzugehen. Thematisiert das Gedicht vielleicht eine Beziehung zwischen Freund:innen oder einen spezifischen Ort? Wird ein Reimschema häufig verwendet, zum Beispiel der Trochäus? Enden die Verse hauptsächlich auf klingenden Kadenzen? Und stechen bestimmte Stilmittel heraus, etwa Metaphern, die in Verbindung mit dem Themenfeld „Musik“ stehen? All das verbindest du im Schluss deiner Gedichtanalyse und nennst die Hauptaspekte, die du im Hauptteil herausgearbeitet hast. Du kannst im Schluss auch nochmals auf die literarische Epoche eingehen, in der das Gedicht entstanden ist, und so einen Bogen zur Einleitung spannen, oder auf die Biografie des:der Autor:in. Welche Zusammenhänge kannst du erkennen?