Die Grounded Theory erklärt – Ein sozialwissenschaftliches Beispiel

Redaktion | 13.01.2023 | Lesedauer 7 min

In der qualitativen Forschung werden Wörter, Sprache und die damit verbundenen Bedeutungen analysiert. Die gesammelten Daten werden auf Themen und Essenzen reduziert, die in neue Modelle oder Theorien einfliessen können.

Mit der Grounded Theory entwickelten Glaser und Strauss in den 1960er-Jahren eine Methode, die es ermöglicht, systematisch eine auf qualitativen empirischen Daten basierende Theorie zu entwickeln. Die Grounded Theory stellte die damals vorherrschende logisch-deduktive Art der Theoriebildung in Frage: Denn anstatt eine Theorie zu entwerfen und dann systematisch nach Beweisen zu suchen, um sie zu verifizieren, dient die Grounded Theory dazu, systematisch eine direkt aus den Daten abgeleitete Theorie zu entwickeln.

Deduktives Vorgehen Induktives Vorgehen
Theorien werden auf Grundlage existierender Überlegungen und Modelle festgelegt und verifiziert Theorien leiten sich aus der Auswertung des Textmaterials ab

Das Herzstück der Grounded Theory ist der Prozess der Datenanalyse. Das Kodieren in der qualitativen Forschung dient dazu, Informationsstücke in Daten zu untersuchen und nach Ähnlichkeiten und Unterschieden zu suchen, um sie zu kategorisieren. Beim Kodieren werden die Daten also aufgeschlüsselt, verglichen und dann in eine Kategorie eingeordnet. Ähnliche Daten werden in ähnliche Kategorien eingeordnet und unterschiedliche Daten bilden neue Kategorien.

In der Grounded Theory hat die Datenanalyse einen klar definierten Prozess, der mit einer grundlegenden Beschreibung beginnt, zur begrifflichen Ordnung und dann zur Theoriebildung übergeht. Das Kodieren in der Grounded Theory ähnelt in seiner Verwendung anderen qualitativen Traditionen – aber es ist auch viel mehr. Denn in der Grounded Theory unterscheidet sich diese durch ihren Entwicklungsstand und ihre Spezifität deutlich von anderen Methoden. Das Kodieren ist nicht einfach nur ein Teil der Datenanalyse, es ist der grundlegende analytische Prozess: Es ist das, was Forscher:innen vom Transkript zur Theorie bringt.

Grounded Theory – Theoretischer Hintergrund

Im folgenden Beitrag wird die Grounded Theory anhand eines sozialwissenschaftlichen Beispiels erklärt. Mittels qualitativer Methoden werden mögliche Gründe für fremdenfeindliche Einstellungen analysiert. Da Fremdenfeindlichkeit zahlreiche Erscheinungsformen hat, beschränken wir uns für dieses Beispiel auf Antisemitismus – also auf die Feindschaft gegenüber Personen jüdischen Glaubens. Der Datenanalyse liegt die folgende Forschungsfrage zugrunde: Auf welche Motive sind antisemitische Einstellungen zurückzuführen?

Aus der akademischen Literatur lassen sich einige theoretische Denkmodelle ableiten, die als Vorüberlegungen in den Interviewleitfaden und später in die qualitative Analyse einfliessen können:

Beispiele

Methoden der Datenerhebung

Welche Daten können gesammelt werden, um die Motive antisemitischer Einstellungen zu erforschen?

Es können sowohl Personen interviewt werden, die selbst antisemitische Einstellungen haben, als auch solche, die Expert:innen in diesem Bereich sind. Fachspezifische Expertise wird Expert:innen aufgrund ihrer beruflichen Position zugeschrieben. Für das vorliegende Beispiel wurden vier Proband:innen interviewt, die ihre antisemitischem Einstellungen in sozialen Medien publizieren.

Qualitative Daten können übrigens nicht durch Interviews, sondern auch durch Gruppendiskussionen oder Bild- und Videoanalysen erhoben werden. Die Interviews sind allerdings die etablierteste Erhebungsmethode. Die Interviews werden in der Regel mit einem Aufnahmegerät geführt und anschliessend transkribiert.

Wichtig ist es, dass so viele Informationen wie möglich gesammelt werden, um keine Forschungslücken zu hinterlassen. Dies wird als theoretische Sättigung bezeichnet: Diese ist dann erreicht, wenn aus der Datensammlung und -auswertung keine neuen Erkenntnisse mehr generiert werden.

Kodierung

Der Kodierprozess lässt sich in drei Phasen unterteilen: Das offene, axiale sowie selektive Kodieren.

Schritt 1: Offene Kodierung

Das offene Kodieren ist der erste Schritt im Kodierungsprozess. Hier werden die Daten Wort für Wort betrachtet und in kleinere Sinneinheiten zerteilt, die als Kodes benannt und danach zu übergeordneten Konzepten weiterentwickelt werden. Als Kodes werden in der Regel Wörter und Textstellen herausgefiltert, die im Datenmaterial immer wieder vorkommen.

Die offene Kodierung kann durch systematische W-Fragen erleichtert werden. Die folgende Liste ist nicht vollständig und wird je nach Forschungsgegenstand modifiziert:

Was? Welches Phänomen wird diskutiert? Was ist das Thema? Was geschieht?

Wer? Welche Akteure sind involviert, wie interagieren sie und welche Rollen habe sie inne?

Wo/Wann tritt das Phänomen auf? Wie lange dauert es an?

Warum? Welche Gründe werden genannt? Welche lassen sich indirekt aus dem Gesagten ableiten?

Direktes Zitat W-Frage Kodes
B1: „Was damals passiert ist, das hat jetzt dazu geführt, dass die Juden einfach gesagt haben: Wir müssen […] uns jetzt in den Medien und der Finanzwelt stark einbringen, so dass wir Menschen, ich sag das jetzt mal in Anführungsstrichen, manipulieren können.” Was? Jüdischer Einfluss in den Medien

Wer? Jüdische „Elite”

Warum? Weil sie Macht ausüben und Menschen vermeintlich manipulieren wollen

  • Medien
  • Finanzwelt
  • Jüdische Macht
  • Manipulation
B2: „Ich hab’ nichts gegen die normalen Juden, die ihre Religion ausleben wollen […]. Aber ich hab’ schon was gegen die Einstellung der Juden gegenüber den Palästinensern, die dort leben.” Was? Nahostkonflikt, Diskriminierung von Palästinensern

Wer? Personen jüdischen Glaubens, die der Befragte als „normale Juden” bezeichnet

Wo/Wann? In den palästinensischen Autonomiegebieten

  • Palästina
  • Israel
  • Nahostkonflikt
Kodes Konzept
  • Medien
  • Finanzwelt
Antisemitische Stereotype
  • Nahostkonflikt
  • Palästina
Antizionistischer Antisemitismus

Schritt 2: Axiale Kodierung

Das axiale Kodieren ist der zweite Teil der dreiphasigen Kodierung. Der Zweck des axialen Kodierens besteht darin, die zersplitterten Daten auf neue Weise zusammenzufügen, indem aus inhaltlich verwandten Konzepten übergeordnete Kategorien gebildet werden.

Grounded theory

Abbildungen 1 und 2

Grounded Theory

Anschliessend werden die gebildeten Kategorien in Beziehung zueinander gesetzt, wodurch sogenannte Achsenkategorien entstehenGrounded Theory

Abbildung 3

 

Schritt 3: Selektive Kodierung

Im letzten Arbeitsschritt wird selektiv kodiert, bis die theoretische Sättigung erreicht ist: Die Achsenkategorien werden miteinander verflochten, so dass eine neue Theorie entsteht. Dazu wird eine Kern- beziehungsweise Schlüsselkategorie ausgewählt, die für die neue Theorie besonders wichtig ist.

Grounded Theory

Abbildung 4

Die Kernkategorie sollte mit vielen anderen Kategorien in Beziehung gesetzt werden können und häufig in den Daten vorkommen. Die Kernkategorie ist der Ausgangspunkt eines ganzheitlichen Kategoriennetzes, aus dem eine neue Theorie generiert werden kann. Die selektive Kodierung ist dem axialen Kodierungsprozess sehr ähnlich – der Unterschied besteht darin, dass die selektive Kodierung auf einer höheren Analyseebene stattfindet.

Wichtige Begriffe

Zusammenfassung:

Wir fassen zusammen, dass einige Begrifflichkeiten im Rahmen der Grounded Theory voneinander abgegrenzt werden müssen: Kodierung, Kode, Konzepte und Kategorie.

  • Als Kodierung wird das Zerlegen von Daten in inhaltlich sinnvolle Einheiten bezeichnet.
  • Ein Kode ist ein Textabschnitt aus einzelnen Wörtern und Textstellen.
  • Konzepte sind Strukturen, die aus zusammengefassten Kodes generiert werden.
  • Kategorien sind zusammengefasste Konzepte. Sie konzeptualisieren also, wie verschiedene Kodes miteinander in Beziehung stehen.

 

Memos und die Methode des ständigen Vergleichs

Die Analyse sollte durch das Anfertigen sogenannter Memos begleitet werden. Memos können sich unter anderem aufdas weiterführende Forschungsvorhaben, aber auch auf theoretische Ideen und einzelne Abschnitte des Datenmaterialsbeziehen.

Forscher:innen setzen teilweise unterschiedliche oder widersprüchliche Akzente im Rahmen ihrer Auswertung undüberlegen, wie sie in Einklang gebracht werden können. Hier ist es eine gute Idee, die Auswertung immer wieder zuunterbrechen und theoretische Ideen als Memos aufzuschreiben, bevor mit dem Kodierungsprozess fortgefahren wird. In der Grounded Theory wird dieses Verfahren als Methode des ständigen Vergleichs bezeichnet. Wer eine Kodierpause einlegt und Ideen als Memos aufschreibt, kann diese später mit neu generierten Ergebnissen vergleichen.

Die Grounded Theory basiert auf dem ständigen Hinterfragen von Ergebnissen durch den ständigen Vergleich von Daten.Diese Vergleiche werden auf verschiedenen Ebenen durchgeführt. Verschiedene Datenausschnitte, Kodes und Kategorienwerden sowohl miteinander als auch untereinander verglichen, um theoretische Annahmen zu vertiefen, zu modifizierenoder zu schärfen.

Darstellung der Ergebnisse: Die neue Theorie

Wie eingangs geschildert zielt die Grounded Theory darauf ab, eine neue Theorie zu entwickeln. Um die Ergebnisse zusammenzufassen und damit die Forschungsfrage zu beantworten, erfolgt eine Nacherzählung anhand der Beziehung zwischen Kernkategorie und Achsenkategorien. Wünschenswert sind ausserdem direkte Zitate aus den Interviewtranskripten, um die Ergebnisse mit dem Datenmaterial zu untermauern.

Beantwortung der Forschungsfrage

Abschliessend soll eine neue Theorie aus unserer Datenanalyse ausformuliert werden. Wir erinnern uns daran, dass wir Motive für antisemitische Einstellungen herausarbeiten wollten. Ein Ausschnitt aus unserem finalen Kategorienraster wird in Abbildung 5 dargestellt.

 

Grounded Theory

Abbildung 5

Der antizionistische Antisemitismus sticht in unseren vier exemplarischen Interviews hervor. Diese Form der Judenfeindlichkeit wird besonders häufig beobachtet und mitunter hochemotional und radikal kommuniziert. Auffallendist, dass klassische antisemitische Mythen im Kontext des Nahostkonflikts wiederverwendet und modifiziert werden.

Eine wichtige Erklärung und somit eine neue Theorie für die Motive hinter antisemitischen Einstellungen scheint dieSolidarität zu sein, die viele Befragte mit Palästinensern empfinden. Unter einigen Befragten scheint diese Solidarität eineReaktion auf eigene Diskriminierungserfahrungen in der deutschen Gesellschaft zu sein, die sie aufgrund ihrer Konfession oder ihrer ethnischen Herkunft machen. Ein muslimischer Befragter ist der Auffassung: „Wenn irgendwas schlechtes einem Moslem widerfährt, ist der gesellschaftliche Aufschrei definitiv nicht so gross, wie wenn’s einem Juden passiert”, was andeutet, dass er sich Personen jüdischen Glaubens gegenüber benachteiligt fühltEin anderer Befragter mit Migrationshintergrund skizziert: „Uns Ausländern werden Sachen vorgeworfen, die wir gar nicht machen und gar nicht sind, wir werden wirklich alle in einen Topf geworfen”.

Infolgedessen werden Palästinenser als Eigengruppe identifiziert – und „der Jude” als gemeinsames Feindbild deklariert. Ein muslimischer Befragter begründet dies wie folgt: „Was näher an dir ist oder an deiner persönlichen Situation, an deinem Glauben oder deinem Charakter, das geht dich mehr an“.

Weiterführende Literatur

Glaser, B. & Strauss, A. (2010): Grounded theory. Strategien qualitativer Forschung. Huber.

Holz, K. (2005): Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindlichkeit.Hamburger Edition.

Kelle, U. (2007). Theoretisches Vorwissen und Kategorienbildung in der „Grounded Theory“. In Qualitative Datenanalyse: computergestützt (S. 32-49). VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Liebold, R., & Trinczek, R. (2009). Experteninterview. In Handbuch Methoden der Organisationsforschung (S. 32-56). VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Pfahl-Traughber, A. (2002): Antisemitismus in der deutschen Geschichte. VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Strauss, A., & Corbin, J. M. (1997). Grounded theory in practice. Sage.

Strauss, A. & Corbin, J. (1996). Grounded Theory. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Beltz.

Strübing, J. (2009). Grounded Theory: Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung des Verfahrens der empirisch begründeten Theoriebildung. Berlin: Springer-Verlag. Strübing, J. (2018). Grounded Theory: Methodische und methodologische Grundlagen. In Praxis Grounded Theory (S. 27-52). Springer VS.